30 Jahre danach: Ost und West uneins über Deutsche Einheit

Nach drei Jahrzehnten haben die Deutschen in Ost und West immer noch sehr unterschiedliche Perspektiven auf die Wiedervereinigung und das vereinte Deutschland. Dies ist das Ergebnis einer aktuellen Studie der Bertelsmann Stiftung. Jedoch verliert die Unterscheidung in „Ost“ und „West“ im Wechsel der Generationen an Bedeutung.

Die Geschichte der deutschen Einheit wird in Ost- und Westdeutschland unterschiedlich erzählt. Das zeigt eine neue Studie der Bertelsmann Stiftung. Während für die Menschen im Ostteil des Landes die gesellschaftlichen Veränderungen eng mit teilweise dramatischen biografischen Umbrüchen verbunden sind, fehlt denen im Westen häufig ein persönlicher Bezug zur Wiedervereinigung. „Die deutsche Einheit ist im Osten die Geschichte der friedlichen Revolution und der Montagsdemonstrationen, durch die schließlich die Wende herbeigeführt wurde. Die Geschichte im Westen dagegen handelt vom Scheitern der DDR an ihren wirtschaftlichen und politischen Unzulänglichkeiten, woraus zwangsläufig die Wiedervereinigung folgen musste“, sagt Kai Unzicker, Experte für gesellschaftlichen Zusammenhalt bei der Bertelsmann Stiftung. Für die Studie wurden zunächst Tiefeninterviews und Gruppendiskussionen geführt, bevor die Ergebnisse in einer repräsentativen Online-Befragung mit 1.581 Personen überprüft wurden.

Für rund 90 Prozent der Befragten in Ost- und Westdeutschland stellt die Wiedervereinigung ein Ereignis dar, das in den vergangenen 30 Jahren großen oder sehr großen Einfluss auf das Land hatte. Damit liegt sie mit ihrem Einfluss knapp vor der aktuellen Corona-Krise sowie der sogenannten Flüchtlingskrise 2015. Auffällig ist dabei, dass die Menschen in Ostdeutschland den Einfluss der Einheit auf das eigene Leben mit 74 Prozent häufiger als groß oder sehr groß einschätzen als ihre westdeutschen Mitbürger:innen mit 61 Prozent. „Im Leben der Westdeutschen spielt die Frage, ob jemand aus dem Osten oder Westen kommt, eine untergeordnete Rolle. Für die Ostdeutschen hingegen ist ihre Herkunft auch heute noch ein deutlich entscheidenderer Teil ihrer Identität“, so Unzicker.

60 Prozent der Ostdeutschen fühlen sich wie Bürger zweiter Klasse behandelt

So überwiegt bei den Menschen in Ostdeutschland noch immer das Gefühl, dass im Zuge der Wiedervereinigung viele Dinge, die in der DDR gut funktioniert haben, verloren gegangen sind. Diese Auffassung vertreten immerhin 84 Prozent von ihnen. „Die Befragten im Osten empfinden es vielfach so, dass damals keine neue gemeinsame Gesellschaft entstanden sei. Vielmehr sei ihnen mit der Einheit nur das westdeutsche System übergestülpt worden, an das sie sich anpassen mussten“, schildert Jana Faus vom Berliner Forschungsinstitut pollytix, das die Studie im Auftrag der Bertelsmann Stiftung durchgeführt hat.

Von den älteren Ostdeutschen über 55 Jahren sind 85 Prozent der Meinung, sie verdienten mehr Anerkennung für die friedliche Revolution. Umgekehrt reklamieren die älteren Westdeutschen mehr Anerkennung für die Finanzierung der Einheit. Eine große Rolle spielt das Gerechtigkeitsempfinden. Von den ostdeutschen Befragten geben 83 Prozent an, in der Zeit nach der Wiedervereinigung unfair behandelt worden zu sein. Zudem fühlen sich rund 60 Prozent von ihnen wie Bürger zweiter Klasse beurteilt, während nur 21 Prozent der Westdeutschen dies von den Ostdeutschen sagen.

Auch Menschen mit Migrationshintergrund klagen über fehlende Anerkennung

Die Studie hat aber nicht nur die Unterschiede zwischen Ost und West in den Blick genommen, sondern auch die Perspektive von Menschen mit Migrationshintergrund auf das heutige Deutschland und die Einheit untersucht. Für mehr als die Hälfte von ihnen (54 Prozent) hat die Wiedervereinigung einen großen oder sehr großen Einfluss auf das eigene Leben. Zugleich liegt in dieser Bevölkerungsgruppe der Anteil derjenigen, die der Meinung sind, als Bürger zweiter Klasse behandelt zu werden, mit 60 Prozent relativ hoch. In den qualitativen Interviews kam auch zum Vorschein, dass viele Personen mit Migrationshintergrund die Erfahrung gemacht haben, nicht als gleichberechtigte Deutsche anerkannt zu werden – selbst dann, wenn sie ihrer Überzeugung nach alle Anforderungen der Mehrheitsgesellschaft erfüllten.

Zwar ziehen die Autor:innen der Studie das Fazit, dass die Einheit auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung noch nicht vollendet ist. Neben den immer noch deutlich erkennbaren Unterschieden in den Einstellungen der Menschen in Ost und West sowie mit und ohne Migrationshintergrund, finden sie aber auch viel Verbindendes: „Sprache, Geschichte, Leistung und Solidarität sind – etwas zugespitzt – die vier Elemente, die für alle unsere Studienteilnehmer den Kern des heutigen Deutschseins ausmachen“, erklärt Jana Faus von pollytix strategic research und Co-Autorin der Studie. Zudem ist zu beobachten, dass im Zeitverlauf und im Wechsel der Generationen die Unterscheidung in „Ost“ und „West“ an Bedeutung verliert.

TV-Dokumentation am 9. September um 20.15 Uhr bei 3sat

Sowohl mit Blick auf die deutsche Einheit als auch auf Einwanderung dominierten bislang immer Forderungen nach Anpassung, so die Autor:innen. Wichtig sei es daher, die Chance der gemeinsamen Neugestaltung und Weiterentwicklung des Gemeinwesens stärker zu ergreifen. „Wir sollten in den nächsten Jahren in Deutschland an einem zukunftsoffenen Leitbild arbeiten, zu dem jeder etwas beitragen kann und das die Erfahrungen und Biografien aller Bevölkerungsteile wertschätzt“, fasst Unzicker zusammen.

Der qualitative Teil der Studie wurde von einem Fernsehteam begleitet. Entstanden ist dabei die Dokumentation „Wir 80 Millionen. Was die Deutschen vereint.“, die am 9. September 2020 um 20.15 Uhr bei 3sat ausgestrahlt wird.

Zusatzinformationen

Die Studie ist Teil des Projekts „Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt“, in dem die Bertelsmann Stiftung seit 2012 die soziale Kohäsion auf unterschiedlichen Ebenen untersucht. In der Vergangenheit wurden bereits zahlreiche indikatorenbasierte quantitative Studien durchgeführt, zuletzt im ersten Halbjahr 2020. Die vorliegende Studie wählt einen methodisch und konzeptionell neuen Weg, indem sie sich auf qualitative Tiefeninterviews und Fokusgruppen konzentriert. Für die Studie wurden in fünf deutschen Städten beziehungsweise deren Umland (Rostock, Berlin, Leipzig, Nürnberg und Essen) insgesamt 50 Tiefeninterviews durchgeführt und anschließend mit den Teilnehmern in jeweils zwei Fokusgruppen sowie einer 14-tägigen Online-Community diskutiert und Fragen bearbeitet. Zum Abschluss fand eine weitere Fokusgruppendiskussion mit Vertretern aus allen Standorten statt. Die in der qualitativen Forschung erarbeiteten Ergebnisse wurden anschließend in einer repräsentativen standardisierten Online-Befragung validiert. Hierfür wurden insgesamt 1.581 wahlberechtigte Personen ab 18 Jahren befragt, davon 779 in Westdeutschland und 802 in Ostdeutschland. Darunter waren 170 Befragte mit Migrationshintergrund.

Im Auftrag der Bertelsmann Stiftung wurde die Datenerhebung sowohl des qualitativen als auch des quantitativen Teils der Studie von pollytix strategic research durchgeführt. Die Autor:innen der Studie sind Jana Faus und Matthias Hartl (beide pollytix) sowie Dr. Kai Unzicker (Bertelsmann Stiftung).

Über Bertelsmann Stiftung

Die Bertelsmann Stiftung setzt sich dafür ein, dass alle an der Gesellschaft teilhaben können – politisch, wirtschaftlich und kulturell. Unsere Themen: Bildung, Demokratie, Europa, Gesundheit, Werte und Wirtschaft. Dabei stellen wir die Menschen in den Mittelpunkt. Denn die Menschen sind es, die die Welt bewegen, verändern und besser machen können. Dafür erschließen wir Wissen, vermitteln Kompetenzen und erarbeiten Lösungen. Die gemeinnützige Bertelsmann Stiftung wurde 1977 von Reinhard Mohn gegründet.

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