Schmerz als Symbol für Disziplin und Hingabe?

Tanzen – egal ob als Freizeit- oder Profisport – wird oft als reine Kunstform betrachtet: schön aussehen, gelenkig sein und auf der Bühne/am Parkett eine gute Figur abgeben. Doch die Tanzmedizin spricht andere Bände. Tanzen ist ein knallharter Hochleistungssport, bei dem das Risiko von Verletzungen sehr hoch ist. Wie hoch wirklich, welche Risiken es gibt und warum diese physisch und psychisch immer noch oft zu bleibenden Schäden im Leben führen – darüber referiert Judith-Elisa Kaufmann, Tanzwissenschaftlerin und internationale Universitäts-Dozentin, auf dem 38. Jahreskongress der GOTS in Luxemburg (15.-17. Juni 2023).

Kaufmann hat umfangreiches Datenmaterial aus Studien zu muskuloskelettalen Verletzungen von Kindern und Jugendlichen im Tanz ausgewertet. Zum einen im Bühnentanz, wie zum Beispiel Ballett, Jazztanz, Stepptanz. Zum anderen im Tanzsport wie Standard oder Latein. Inkludiert waren sowohl Freizeit- als auch Profitänzer.

Bei Jugendlichen zwischen 9 und 18 Jahren in der Berufsausbildung finden sich Verletzungsraten zwischen 0.77 und 4.71 Verletzungen pro 1000 Trainingsstunden. Mit 1,38 Verletzungen auf 1000 Stunden Training dokumentiert eine prospektive Studie zur Berufsausbildung im klassischen Ballett ein Verletzungsrisiko von 76 Prozent während eines Schuljahres. Eine weitere beschreibt bei Knaben 5,5 Verletzungen pro 1000 Stunden Training, bei Mädchen 2,6 Verletzungen Alter von 15 Jahren.

Im Freizeitsport Tanz sieht es nicht besser aus. Von 1336 ärztlich untersuchten Kindern im Alter zwischen 8 und 16 Jahren, die Ballett, Jazz und Modernen Tanz trainierten, wiesen 42,6 Prozent Verletzungen auf.

Bei den Jüngeren (8–10-Jährige) sind es vor allem Tendopathien (chronisch/Überlastungsverletzung) am hinteren Knöchel, Gelenksverletzungen, Entzündungen, Schmerzen im unteren Rücken und Verletzungen an der Wirbelsäule. Bei den älteren Kindern ab 14 Jahren verschieben sich die Verletzungsschwerpunkte vom Fuß auch zum Knie und zur Wirbelsäule. Erschreckend hierbei ist, dass die chronischen Verletzungen und Überlastungen mit 60-90 Prozent auch bei Jugendlichen dominieren.

„Dies müsste nicht sein, wenn es nicht das alte Klischee gäbe, durch die Verletzung durcharbeiten zu müssen. Noch gibt es in der Tanzwelt eine Art Athletenidentität: Schmerzen und Verletzungen gehören dazu. Je mehr du trotz Verletzung und Überlastung schaffst, desto besser bist du angesehen“, so Kaufmann.

Schmerz ist über Jahrzehnte in der Tanzwelt zum Symbol für Disziplin und Hingabe geworden, sagt sie. Jedoch ist keine Änderung in Sicht, wenn „Tänzer schon als Kinder lernen, weiterzumachen – trotz Verletzung“.

Sogar im Freizeitsport hat sich dieser Ansatz vielerorts etabliert: Weitermachen, Zähne zusammenbeißen, Schmerz als Motivation und Maßstab für Leistung sehen. Dieses traditonsverankerte Denken von Trainern, Lehrern, der Gesellschaft und den Tänzern selbst gilt es zu durchbrechen, nicht nur um Verletzungen vorzubeugen, sondern auch um Leistung und Wohlbefinden zu steigern.

Intuitiv würde jedes Kind sagen: „Aua, bitte Stopp, da tut was weh“. Normalerweise sucht jeder die Heilung. „Wenn dieser intuitiv-gesunde Weg jedoch Konsequenzen nach sich zieht – vom Schief-Angesehen werden bis zum Rauswurf aus Schulen oder Vereinen – läuft hier was falsch“, mahnt die Wissenschaftlerin. „Das macht im Gehirn was mit den Tänzern, es erzieht zu falschem Umgang mit Schmerz, falscher, kontraintuitiver Schmerzwahrnehmung und somit gefährlicher Interpretation von tänzerischer Disziplin und Zielsetzung.“ Viele Profi-Tänzer trauen sich nicht einmal, anonym an Studien zu Schmerz und Verletzung teilzunehmen aus Angst, ihre Antworten könnten von Arbeitgebern und Lehrern eingesehen werden.

Kaufmann betont die Wichtigkeit, Tänzer nicht nur als Künstler, sondern auch als Athleten anzusehen. „Es geht nicht darum, schön dünn und hübsch zu sein, sondern mit ausgewogener Ernährung die notwendige Fitness und Kraft für die zu erbringende künstlerische Hochleistung zu haben.  Nur über evidenz-basierte gezielte Trainingsplanung kann die richtige Art von Leistungssteigerung und eine umfangreiche Verletzungsprävention etabliert werden.

Neben den bleibenden körperlichen Schäden durch Verletzungen und Verschleiß wirkt die psychische Komponente so stark, dass viele ehemalige Tänzer zeitlebens übermäßig auf Gewicht und Aussehen achten, sich vergleichen müssen und es immer wieder anderen Menschen recht machen wollen, um Leistung zu zeigen, nicht anzuecken, geliebt zu werden.

Am Herzen liegt Judith-Elisa Kaufmann deshalb auch die Aufklärung des Publikums, der Medien und der Politik: „Will man da wirklich ganz dünne Tänzer sehen, von denen einige gerade unter Schmerzen und mit niedrigem Selbstkonzept einen Kunstgenuss darbieten? Oder sollen es in Zukunft  junge Sportler sein, die fit und voller Selbstvertrauen sind, Verletzungen vorbeugen oder auch die Zeit bekommen und sich nehmen, diese gewissenhaft auszukurieren?“

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