In hochkarätig besetzten Plenarsitzungen und Symposien werden neue Erkenntnisse zur interdisziplinären Versorgung neuromuskulärer Erkrankungen vorgestellt, es werden spannende Diskussionen erwartet. Was sind für Sie als gemeinsame Kongresspräsidenten die Highlights?
Ulrike Schara-Schmidt: Vom Formalen her ist es schon ein Highlight, dass wir das zusammen machen, das gab es bisher noch nicht, dass wir Themen über die gesamte Lebensspanne haben. Es gab bisher auch noch keine Doppel-Präsidentschaften. Wir werden Themen von der Grundlagenforschung bis hin zu Themen im täglichen Alltag anreißen, zum ersten Mal immer für das Alter von 0 bis 100. Diese Mischung finde ich persönlich sehr gut.
Tim Hagenacker: Wir haben den wissenschaftlichen Nachwuchs besonders adressiert, etwa mit der Vermittlung rein praktischer Fähigkeiten, mit den Skills Labs. Wir haben eine große Posterpräsentation, in dem wir besonders gute Beiträge aus dem wissenschaftlichen Nachwuchsbereich noch einmal gesondert herausgehoben haben, aber auch klassische Poster, in denen die Teilnehmer ihre wissenschaftlichen Beiträge präsentieren können.
Experten aus verschiedenen Fachgebieten diskutieren genetische Prädisposition, molekulare Ursachen von Muskelkrankheiten und therapeutische Angriffsmöglichkeiten. Erwartet wird ein innovativer und visionärer Kongress …
Tim Hagenacker: Wir haben sowohl die aktuellen Themen, die das Feld bewegen, adressiert, zum Beispiel im Bereich der genetisch basierten Therapien und im Bereich der neuen und sehr breiten genetischen Diagnostik. Im Hinblick auf das Visionäre haben wir speziell Themen ausgewählt, die nicht nur den Bereich der Therapien von morgen, sondern auch von übermorgen adressieren. Es geht um das, was heute vielleicht im Labor funktioniert, was daraus wohl einmal wird und um das, was dann Einzug in die Klinik hält.
Ulrike Schara-Schmidt: …visionär insofern, dass unser Bereich ja jetzt schon sehr komplex ist. Gentherapien sind in aller Munde, aber es gibt auch herkömmliche, multidisziplinäre Themen. Die Vision ist, dass es gut miteinander funktioniert, und die noch größere Vision ist, dass es Einzug hält in unsere klinische Versorgungsstruktur. Zu diesen verschiedenen Aspekten, die wir diskutieren wollen, sind Redner eingeladen. Als zweite Achse wollen wir diskutieren, dass die Therapien über die Kinder-Erwachsenen-Grenze hinweggehen.
Die sogenannte Transition, ein wichtiger Fokus des Kongresses liegt auf dem spezifischen Fortschreiten neuromuskulärer Erkrankungen über alle Altersstufen hinweg. Weshalb ist der Übergang von der Jugend- in die Erwachsenenmedizin hier von besonderer Bedeutung?
Ulrike Schara-Schmidt: Aus meiner Perspektive als Kinderneurologin haben wir heute viel mehr Möglichkeiten, therapeutische Angebote zu machen. Durch die neuen Entwicklungen haben die Patienten eine bessere Lebenserwartung, bessere Lebensqualität und können auch deutlich über 18 Jahre alt werden. Es ist für uns ganz wichtig, dass wir eine Möglichkeit schaffen, die Patienten in gute Hände zu übergeben. Das ist hier am Standort Essen ein Alleinstellungsmerkmal, aber grundsätzlich sollte es flächendeckend so sein, dass die Patienten nicht mit Erreichen des 18. Geburtstages in ein Loch fallen…
Tim Hagenacker: Durch die immer effektiveren therapeutischen Möglichkeiten im Kindesalter sehen wir nicht nur eine zunehmende Anzahl an Patienten im Erwachsenenalter, sondern auch in neuen Krankheitsausprägungen. Wir sehen zum Beispiel andere Organmanifestationen, aber auch therapieassoziierte Phänomene. Als Erwachsenen-Neurologe muss ich verstehen, wie die Therapie im Kindesalter stattgefunden hat und welchen Einfluss sie dort auf den Erkrankungsverlauf genommen hat, um dann zu wissen, was die individuellen Herausforderungen sein werden. Gleichzeitig sehen wir, dass Patienten von einem harmonischen Übergang zwischen Jugend- und Erwachsenenmedizin im 18. Lebensjahr profitieren, wenn im pädiatrischen und im Erwachsenenbereich beide Partner einheitliche Strukturen und Standards benutzen.
Gibt es nach den erfolgreichen gentherapeutischen Behandlungsansätzen der spinalen Muskelatrophie schon andere Muskelerkrankungen, bei denen eine Gentherapie zugelassen ist?
Ulrike Schara-Schmidt: Die nächste Erkrankung, die auf eine Medikamentenzulassung wartet, ist die Duchenne-Muskeldystrophie. Da laufen jetzt noch die Studien. Wir gehen davon aus, dass das von der FDA zugelassen wird. Dann sehen wir, wie es in Europa weitergeht. Aus einigen europäischen Ländern sind Kinder mit in der Studie eingeschlossen, in Deutschland ist es ein Junge, in Essen. Aber es sind noch einige weitere Erkrankungen in der Pipeline, die folgen werden. Dabei sind unterschiedlich definierte Gentherapien zu unterscheiden, zum Beispiel auf DNA-Level und auf RNA-Level. Neben den Genersatztherapien auf Ebene der DNA, zum Beispiel bei Kindern bei Spinaler Muskelatrophie (5q-SMA), die jetzt auch bei der Muskeldystrophie Duchenne erwartet werden, gibt es auch noch Gentherapien auf RNA-Ebene, sowohl bei den Erwachsenen als auch bei den Kindern, zum Beispiel mit dem Medikament Spinraza.
Tim Hagenacker: Wir haben noch keine Genersatztherapie auf DNA-Ebene bei den zahlreichen Erkrankungen bei Erwachsenen, aber vergleichbare Therapien auf RNA-Ebene, die auch genmodifizierend wirken. Es ist uns ganz wichtig, dass wir als Erwachsenenmediziner von den bisherigen Erfahrungen in der Pädiatrie lernen. Wir haben viel erwartet von den Gentherapien, aber inzwischen festgestellt, dass das, was bei einer Erkrankung hocheffektiv ist, auf andere Erkrankungen nicht übertragbar sein muss. Das wird sich auch auf den Bereich der Erwachsenenmedizin übertragen, viele neuromuskuläre Erkrankungen werden ja erst im Erwachsenenalter manifest und auch da ist eine Gentherapie nicht ausgeschlossen. Es laufen Studien und wir können erheblich von den Vorerfahrungen aus dem neuropädiatrischen Bereich profitieren, sowohl von den „do´s“ als auch von den „don‘ts“.
Sind die wirkungsvollen, kostenintensiven Gentherapien inzwischen schon Standard? Bekommt jeder Patient eine Gentherapie, der davon profitieren kann?
Ulrike Schara-Schmidt: Für die 5q-SMA ist es so, dass die Patienten diese Therapie bekommen können. Aber wir müssen noch einmal unsere Fahne hochhalten und sagen, die Gentherapie ist das eine. Ebenso wichtig ist, dass wir die Logistik darum herum, die notwendigen Ressourcen, haben. Die Vor- und Nachsorgen sind ganz wichtig.
Tim Hagenacker: Genetisch basierte Therapieverfahren, sowohl DNA- wie auch RNA-Therapien, sind sicherlich alle hocheffektiv und der Therapiestandard. Aber die Frage, welche Therapie bei welchem Patienten die beste ist, und zwar unabhängig vom Lebensalter, ist noch völlig offen. Seit wenigen Jahren stehen für die 5q-SMA im Kindesalter drei, im Erwachsenenalter zwei Therapien zur Verfügung, ohne aber zu wissen, welcher Patient für welche Therapie der optimale ist. Diese Fragen sind in Studien nicht beantwortet und auch nicht untersucht worden. Es ist sicherlich auch Aufgabe der akademischen Wissenschaft, zu beantworten: Welcher Patient sollte eigentlich optimalerweise welche Therapie erhalten? Unabhängig davon, ob es DNA- oder RNA-Therapien sind. Und wir wissen auch nicht, ob eine Gentherapie für jeden Patienten das „Non plus ultra“ wäre und die beste Therapie.
Wenn Gentherapie eingesetzt wird – welche neuen Erkenntnisse gibt es zu Dauer der Wirksamkeit und zu Nebenwirkungen? Reicht die Einmalgabe bei Kindern? Wird die Behandlung lebenslang durchgeführt?
Ulrike Schara-Schmidt: Zolgensma ist Stand des heutigen Wissens. Wir wissen noch nicht, ob das ein Leben lang hält. Wir können nur sagen, die ältesten Beobachtungen sind sechs Jahre alt. Wir wissen, dass wir eine lebenslange Therapie brauchen zum Beispiel bei den Medikamenten Spinraza und Evrysdi, das ist heutiger Wissensstand. Wir haben unterschiedlich lange Beobachtungsphasen bei den unterschiedlichen Medikamenten. Spinraza wurde 2017 zugelassen, davor schon in Studien angewendet, Zolgensma wurde 2020 zugelassen, in Studien davor untersucht. Bei anderen Medikamenten ist die Beobachtungszeit noch kürzer, da kann man nur spekulieren und auf gar keinen Fall vergleichende Aussagen machen.
Tim Hagenacker: Bei den Erwachsenen sind sicherlich auch viele Fragen offen. Eine Therapie im Erwachsenenalter ist keine Therapie wie im Kindesalter. Sowohl die praktische Anwendung als auch Wirkung und Nebenwirkungen der Therapie können sich durchaus unterscheiden. Das wurde häufig in Zulassungsstudien nicht berücksichtigt, weil Erwachsene nicht im Fokus waren. Diese Lücken versuchen wir jetzt bestmöglich mit Real World Evidence Studien zu füllen, in Studien, die wir selber als wissenschaftliche Gemeinschaft durchführen. Auch die Frage, wie man dann mit den verschie-denen Therapien umgeht, ist nicht beantwortet. Was definiert die Effektivität einer Therapie? Was sind Kriterien, unter denen man eine Therapie vielleicht wechselt? Solche Fragen sind völlig offen, auch im Erwachsenenalter, die wir aber in den kommenden Jahren beantworten müssen, weil wir eine Mitverantwortung haben, mit diesen teuren Therapien auch das Meiste zu bewirken.
Ein Tagungsschwerpunkt liegt auf komplexen neuen Therapien. Welche Fragen werden bei der anschließenden Podiumsdiskussion aufgegriffen?
Ulrike Schara-Schmidt: Die Idee der Podiumsdiskussion ist das Spannungsfeld einer medikamentösen Therapie, eingebettet in eine multidisziplinäre Betreuung, aber auch Erwartungshaltung. Nicht für jeden Menschen mit 5q-SMA gibt es die gleiche Indikation, eine der drei Therapien einzusetzen, nicht für jeden können sie etwas bewirken. Und es gibt auch Patienten, die schon älter sind, die schwerer betroffen sind, sie werden nicht geheilt, so dass wir insgesamt eine große Gruppe von Phänotypen, von klinischen Erscheinungsbildern haben. Mit im Spannungsfeld sind weiterhin Erwartungs-haltungen von Patienten und deren Angehörigen und Möglichkeiten, die wir in der Klinik haben, in Zentren, in denen die Patienten betreut werden. Und natürlich ein gesamtökonomischer, gesellschaftlicher Aspekt.
Tim Hagenacker: Wir müssen erkennen, dass wir hier erstmals mit Therapien agieren, die wir nicht mehr beenden können. Es gibt viele Therapien, die verschwinden nach Beendigung von alleine aus dem Körper. Das geht bei den Gentherapien nicht, das ist das Prinzip dieser Therapien. Wir müssen auch damit rechnen, dass Spätkomplikationen auftreten können. Das ist eine der Grenzen dieser Therapiemöglichkeit.
Ulrike Schara-Schmidt: Weil der Beobachtungszeitraum so kurz ist und noch niemand sagen kann, womit wir noch rechnen müssen, sind wir darauf angewiesen, sehr gut zu dokumentieren und uns auszutauschen. Die Studien sind mit einem Jahr immer zu kurz – das gilt nicht nur für die Gentherapiestudien, sondern auch für andere Studien – und man muss sehen, dass man sich als Community auch in der Langzeitverfolgung austauscht. Auch darüber werden wir uns auf dem Kongress verständigen.
Wir bedanken uns sehr herzlich für das Interview!
Das komplette Programm der DGM 2023 steht auf der Tagungshomepage www.dgm-kongress.de zur Verfügung.
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