Im Gräberfeld der Vergangenheit schlägt die totgeglaubte Zukunft die Augen auf

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Premiere am 5. Oktober 2019 im Theater Heilbronn, 19.30 Uhr, Großes Haus
Germania 3 Gespenster am Toten Mann
Schauspiel von Heiner Müller

Regie: Axel Vornam
Ausstattung: Tom Musch
Dramaturgie: Dr. Mirjam Meuser

Mit: Nils Brück (Feldjäger Runge/2. Deutscher Offizier/Bürgermeister u.a.);
 Stefan Eichberg (Autor/Leutnant Vogel u.a.); Oliver Firit (Thälmann/Hagen/SS-Mann u.a.);
 Sonja Isemer (Hitler/Kottwitz u.a.); Lucas Janson (Flüchtling/russischer Soldat/Rattenhuber u.a.); Romy Klötzel (Rosa Luxemburg/Prinz von Homburg/Kriemhild/junge Frau u.a.); Rahel Ohm (Stalin/Kurfürst/Ebertfranz u.a.); Johanna Sembritzki (Trotzki/2. Dame/Frau Schumann, deutsche Frau u.a.); Sabine Unger (Ulbricht/Lenin/1. Dame/Frau Hickel u.a.);
Sven-Marcel Voss (Soldat/Offizier/Goebbels u.a.)

»Was man braucht ist Zukunft und nicht die Ewigkeit des Augenblicks. Man muss die Toten ausgraben, wieder und wieder, denn nur aus ihnen kann man Zukunft beziehen.« (Heiner Müller)

Das Loslösen aktuellen Geschehens aus seinem historischen Kontext empfand der Dramatiker Heiner Müller als eine der bedrückendsten, ihn in seiner Schreibkraft geradezu lähmenden Erfahrungen der 90er-Jahre. »Die totale Besetzung mit Gegenwart«, wie er es nannte, die nicht nach dem Woher und dem Wohin fragt, erkläre den gesellschaftlichen Status quo als alternativlos und stoppe den Motor der menschheitsgeschichtlichen Entwicklung. Heiner Müller jedoch hörte bis zu seinem Tod am 30. Dezember 1995 nicht auf, nach Zukunft zu suchen. Chancengleichheit für alle blieb sein Traum. »In der von historischen Jubiläen geprägten Spielzeit 2019/20 geht das Theater Heilbronn zurück zu den Umbrüchen in der jüngeren deutschen Geschichte, um herauszufinden: Wie sind wir geworden, wer wir sind? Was hat uns beeinflusst?«, sagt Intendant Axel Vornam. Eine Frage, die gerade angesichts der hilflosen Erklärungsversuche der jüngsten Wahlergebnisse in Sachsen und Brandenburg von großer Bedeutung ist.
Aus diesem Anlass bringt das Theater Heilbronn in Vornams Regie Heiner Müllers ultimativ letztes Stück auf die Bühne: »Germania 3 Gespenster am Toten Mann«. Die Premiere ist am 5. Oktober um 19.30 Uhr im Großen Haus. Fünf Jahre lang, von 1990 bis 1995 arbeitete Müller sich noch einmal an seinem Lebensthema ab: den Entgleisungen der deutschen Geschichte und den zum Scheitern verurteilten Versuchen, eine gerechte Gesellschaft zu schaffen. »Germania 3 Gespenster am Toten Mann« ist ein Dramenfragment, das einen historischen Bogen vom Zweiten Weltkrieg bis zum Zusammenbruch des sozialistischen Systems schlägt. Es ist bevölkert von den Protagonisten der Geschichte des 20. Jahrhunderts, die wie Gespenster aus den Gräbern der Vergangenheit hervorkommen und sich fragen: Was haben wir falsch gemacht? Noch immer prägt ihr Handeln unsere Gegenwart.

Hitler, Stalin, Ulbricht als Gespenster
Rosa Luxemburg, Ernst Thälmann und Walter Ulbricht, Hitler und Stalin sind die Gespenster, die mit dem Wissen von heute auf ihr Tun zurückblicken und darüber reflektieren, was ihr »Vermächtnis« geworden ist. Aber auch namenlose Akteure, Opfer und Täter in historischen Entscheidungssituationen, treten auf – am Ende des zweiten Weltkriegs, in der DDR, die auf ihren Untergang zuarbeitet. In Schlaglichtern, Momentaufnahmen, sich überlagernden Gedächtnisspuren und surrealen Albträumen besichtigt Müller das 20. Jahrhundert. Er stellt den Gespenstern der Vergangenheit literarische Spiegelfiguren an die Seite wie Kleists Prinzen von Homburg oder Hebbels Nibelungen Kriemhild und Hagen. Aus Müllers Phantasmagorien und surrealen Überhöhungen, seinen großen Bildern und Metaphern kristallisiert sich eine präzise Analyse der historischen Situation heraus, die die Stücke letztlich klüger sein lassen, als ihren Autor, wie Müller ein ums andere Mal betonte.

Ajax zum Beispiel + Germania 3 + Der Findling  ̶  Die Fassung des Heilbronner Theaters
»Germania 3 Gespenster am Toten Mann« blieb ein Fragment. Müller wollte es während der Proben an diesem Stück, die im Herbst 1995 beginnen sollten, vollenden. Dazu kam es nicht mehr wegen seiner schweren Krebserkrankung.
An der Umsetzung seines Projektes hinderte Müller neben vielen öffentlichen Verpflichtungen als Intendant des Berliner Ensembles und als Präsident der Akademie der Künste Ost eine quälende Schreibblockade. Diese resultierte nicht aus einem Mangel an Material, sondern vor allem aus einem Mangel an Zuversicht. Das System, das, trotz aller Fehler, angetreten war, mit einer gerechten Gesellschaft einen Schritt vorwärts in der Entwicklung der Menschheit zu vollziehen, war gescheitert. Müller wurde zeit seines Schaffens nie müde, die Fehler und Widersprüche im sozialistischen System zu beschreiben. Aber dass es vom alten kapitalistischen Gesellschaftssystem, das seither in der öffentlichen Wahrnehmung als alternativlos erschien, geschluckt worden war, empfand er als historischen Rückschritt – als »Ära des rasenden Stillstandes«. Künstlerisch verarbeitet hat er dieses Gefühl unter anderem in dem Langgedicht »Ajax zum Beispiel«. Dieses stellen Regisseur Axel Vornam und Dramaturgin und Heiner-Müller-Spezialistin Dr. Mirjam Meuser dem Fragment »Germania 3 Gespenster am Toten Mann« voran.
Nachgestellt haben sie dem Fragment den fünften und letzten Teil aus »Wolokolamsker Chaussee« – »Der Findling«, entstanden 1987. Hier wird das Motiv vom undankbaren Adoptivsohn aus Kleists Erzählung »Der Findling« in die DDR-Verhältnisse nach 1968 übersetzt  ̶  eine Warnung vor den fatalen Konsequenzen des Verlusts des politischen Dialogs zwischen den Generationen. Und als Kontrast zu Müllers Produktion der 1990er-Jahre ein Stück aus der Zeit vor dem Mauerfall, als Müller die Hoffnung auf gesellschaftliche Bewegung noch nicht aufgegeben hatte.

Als Gegengewicht zur oberflächlichen Betrachtung gesellschaftlicher Ereignisse einzig aus dem Jetzt heraus empfindet Axel Vornam dieses tiefgründige Eintauchen in die Vergangenheit, diesen Kampf gegen das Vergessen als unerlässlich. »Sich mit Müllers Werk auseinanderzusetzen heißt neu und anders denken zu lernen«, sagt Vornam. Ihm bereitet es ein intensives Vergnügen, sich diesen Texten zu nähern, die sperrig, anstrengend und zutiefst philosophisch sind, die keine stringente Handlung haben, aber ein erstklassiger Rohstoff fürs Theater sind und aus seiner Sicht geradezu zu einer sehr sinnlichen Herangehensweise herausfordern. »Irgendwann muss man die Tagesnachrichten durchbrechen. Und dann tut man gut, nach Texten von Heiner Müller zu greifen«, schrieb der Filmregisseur Alexander Kluge, der seit 1989 zahlreiche Interviews mit Heiner Müller geführt hat.

Bühnenbild inspiriert von einem stummen Ort der Geschichte, dem Anwesen am Bogensee
Inspiration für das Bühnenbild von Tom Musch ist ein Ort, der die Widersprüche und Zäsuren in der deutschen Geschichte spiegelt wie kaum ein anderer – und der als historisch extrem belasteter Ort seit 1999 im Dämmerschlaf liegt: Das Anwesen am Bogensee, 15 Kilometer nördlich von Berlin in der Nähe von Wandlitz gelegen. 1939 wurde hier Goebbels Landsitz errichtet, den er ab 1943 ständig bewohnte. Hier empfing er Kunst- und Kulturschaffende des Dritten Reiches, hier arbeitete er an seinen Reden, mit denen er die Deutschen in den Krieg hetzte. 1950 wurde auf demselben Grundstück eine DDR-Kaderschmiede errichtet, die FDJ-Hochschule, mit modernsten Unterrichtsräumen und Wohnhäusern für 500 Studenten aus dem In-und Ausland  ̶  gebaut vom Architekten der Stalinallee, Hermann Henselmann.
Seit 1996 steht dieser »stumme Ort der Geschichte«, von dem aus zwei Diktaturen ideologisch geprägt wurden, unter Denkmalschutz und kostet das Land Berlin, das sich zu keinem neuen Nutzungskonzept für diesen belasteten Ort durchringen kann, jährlich Millionen von Euro. Tom Musch hat das Foyer des Kulturhauses der FDJ-Hochschule auf der Bühne des Großen Hauses nachgebaut, als einen Transitraum der Geschichte, der jetzt deutliche Spuren des Verfalls trägt.

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