Potsdamer Tanztage 2022: Die Premieren der Woche zwei (16. bis 22. Mai)

 

Deutschlandpremiere

J’AI PLEURÉ AVEC LES CHIENS
Daina Ashbee (Gabriola Island/Kanada)

Di 17. Mai 2022, 20:00 + Mi 18. Mai 2022, 19:30
Fabrik Potsdam, Schiffbauergasse 10, Potsdam

J’ai pleuré avec les chiens (TIME, CREATION, DESTRUCTION) ist das erste Gruppenstück von Daina Ashbee. Es entstand vor der Pandemie und ging durch die Unfälle und Zerfallserscheinungen, Zersplitterung, die durch diese erzeugt wurden, und nahm wieder Gestalt an. Das Stück ist geprägt von einer Präzision und nüchternen Poetik der Explosion und der Trance, die wir von der Choreographin gewohnt sind. Mehrere nackte, klaffende Körper. Weibliche Körper, ein männlicher Körper, die von verschiedenen Zuständen und Melodien durchzogen sind. Versuche, sich einander anzunähern, Stapeln auf allen Vieren, Fluchtlinien. Aus dem Bruch entsteht die Verbindung. Aus den von den Körpern erzeugten Klängen gehen Bewegungen hervor, die abwechselnd Knurren, Weinen, Schreie und Rufe erzeugen. Weit davon entfernt, zu illustrieren oder zu repräsentieren, verkörpern die Darsteller, übertragen wie Kanäle aus Fleisch. Myriaden von erlebten Geschichten kristallisieren sich heraus, um die gegenwärtige Körperlichkeit zu formen. Der Entstehungsprozess von J’ai pleuré avec les chiens (TIME, CREATION, DESTRUCTION) begann mit der Erforschung eines Gefühls: Trost in der Umarmung seines Hundes zu suchen, mit dieser begleitenden Spezies heulen. Dieser Prozess entwickelte sich dann in Richtung eines Eintauchens in die Körperzustände von Hunden. Was heute daraus entstanden ist, schwankt nicht zwischen dem Tierischen und dem Menschlichen, dem Körperlichem und Spirituellem, Weiblichem und Männlichem, Natur und Kultur, Leiden und Pflege, der Verankerung und der Luftigkeit. Nein, Dichotomien und Dualismen interessieren Ashbee nicht. Sie denkt die Welt als ein Netz von Möglichkeiten, in dem alles möglich ist, in dem alles koexistieren kann, weit über die Binarität hinaus. J’ai pleuré avec les chiens (TIME, CREATION, DESTRUCTION) gestaltet ein Ritual des Zusammenlebens und der Entgrenzung. Eine Konstellation von Möglichkeiten, die sich der Eingrenzung in eine Kategorie, ein Genre, ein Territorium, einer umschriebenen Zugehörigkeit entzieht. Alles ist vergänglich, flüchtig. Den Raum zu erleben, indem man sein Raster und seine Kategorien an der Garderobe abgibt, öffnet den Weg zu einer anderen sinnlichen Erfahrung: der eines Raumes, in dem sich Wesen und Dinge ständig verändern können. Es handelt sich nicht um eine vorübergehende Störung, sondern um eine Neukonfiguration des Sinnlichen. In dieser Hinsicht ist Ashbees Werk antikolonial. Das koloniale und kapitalistische Verhältnis zur Welt ist nicht nur materiell – Territorien und Körper sind zu erobern, zu klassifizieren, zu besitzen und auszubeuten -, sondern auch kognitiv und sinnlich. Die koloniale Perspektive betrachtet Kunst, Wissen und generell das, was die Welt ausmacht, als Waren, die es zu erwerben und zu kategorisieren gilt. J’ai pleuré avec les chiens (TIME, CREATION, DESTRUCTION) ist eine Absage an die kolonialistisch geprägten Arten des Wissens, des Schaffens und des Fühlens.

Diana Ashbee, Künstlerin, Performerin und Choreografin aus Kanada, ist bekannt für ihre radikalen Arbeiten an der Grenze zwischen Tanz und Performance. Sie war zweifache Preisträgerin beim Prix de la danse de Montréal und gewann sowohl den Prix du CALQ für die beste Choreografie 2015-2016 als auch den Prix Découverte de la danse. Daina wurde von der renommierten deutschen Zeitschrift TANZ als eine von 30 vielversprechenden Künstler:innen für das Jahr 2017 und von der amerikanischen Publikation DANCE als eine von 25 bemerkenswerten Künstler:innen für 2018 genannt. Sie gilt als eine der vielversprechendsten jungen Choreograf:innen der nächsten Generation und ihre Arbeit wurde bereits über hundert Mal in 15 Ländern und über 33 verschiedenen Städten aufgeführt. 2020 zog sie nach Gabriola Island, British Columbia, wo sie in der Nähe des Regenwaldes an der Westküste Kanadas ihre kreative und energetische Arbeit fortsetzt, wenn sie nicht auf Tournee ist oder im Ausland kreiert. Im gleichen Jahr wurden zwei neue Stücke veröffentlicht: ein männliches Solo, Laborious Song, und ein Gruppenstück, J’ai pleuré avec les chiens. Sie ist auch Lehrerin für Bewegung, Choreografie und therapeutische Praktiken. Sie hat an der Hochschule der Biennale Venedig in Venedig, Italien, unterrichtet.

Deutschlandpremiere

GÉNÉRATIONS
Fabrice Ramalingom / R.A.M.A (Paris)

Mi. 18. Mai 2022, 21h + Do. 19. Mai 2022, 20h
T-Werk, Schiffbauergasse 4e, Potsdam

Générations ist das zweite Stück von Fabrice Ramalingom, in dem sich zwei Männer aus zwei Generationen gegenüberstehen. Sein Wunsch ist es, die Frage nach den Beziehungen zwischen den beiden zu vertiefen. Oft handelt es sich um einen Kampf, bei dem die beiden Charaktere gegeneinander antreten: Wissen, Erfahrung und Majestät für den einen, Dynamik, Unschuld und Explosion für den anderen. Die Konfrontation ist hier friedlicher; die beiden Tänzer nutzen ihre körperlichen und intuitiven Fähigkeiten, den Anderen auf unterschiedliche Weise zu berühren. Es gibt "zwischen" diesen beiden Körpern einen dritten, unsichtbaren Körper: den des Choreografen. Er stellt die Verbindung zwischen den beiden her. Er muss seinen Platz finden, ohne präsent zu sein. Mit Générations hinterfragt Fabrice Ramalingom den Lauf der Zeit: Wie kann man mit dem leben, was man ist, nicht mehr ist und noch nicht ist?

Fabrice Ramalingom studierte von 1986 bis 1988 am Centre National de Danse Contemporaine in Angers, das damals von Michel Reilhac geleitet wurde und begann seine Karriere als Tänzer und Performer am Centre Chorégraphique National in Montpellier. Von 1988 bis 1993 arbeitete er dort an allen Stücken von Dominique Bagouet mit, einem emblematischen französischen Choreografen. 1993 begann er das Abenteuer von La Camionetta, einer Kompanie, die er mit Hélène Cathala mitbegründete. 2002 wird dieser Traum durch Immobilienspekulationen und Nachbarschaftsprobleme beendet, doch er ruft nach weiteren Träumen. Fabrice Ramalingom gründete 2006 die Kompanie R.A.M.a., bei der jedes Projekt die Gelegenheit bietet, sich anderen Medien zu öffnen und Mitwirkende aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten einzubeziehen. Die 15 Stücke, die er seit den Anfängen von R.A.M.a. geschrieben hat, sind offene Spannungsräume, die insbesondere in der Lage sind, Gedanken über Paradoxien, die ihm am Herzen liegen, wie Mensch/Tier, Individuum/Gemeinschaft, Anwesenheit/Abwesenheit u.a., zu betrachten und zu reflektieren. Fabrice ist auch für sein Engagement in der Vermittlung und Pädagogik in all ihren Formen bekannt: Berufsausbildungen, Vorträge an Universitäten, in choreografischen Zentren u.a.

Deutschlandpremiere

LA NUIT, NOS AUTRES
Aina Alegre (Paris/Barcelona)

Fr 20. Mai 2022, 19h30 + Sa 21. Mai 2022, 21h
fabrik Potsdam, Schiffbauergasse 10, Potsdam

La Nuit, Nos Autres ist ein gestisches Experiment, das sich mit der Darstellung und der vielfältigen Figuration des Selbst beschäftigt. Hybridisierung – Mutation – Verdopplung – Spiegelspiele – Künstlichkeit und Masken als Werkzeuge haben den Korpus dieses Stücks genährt, das als plastisch-choreografisches Werk konzipiert ist. Ein Pflanzenvorhang und ein Felsen schmücken die Bühne. Vögel zwitschern, Wasser plätschert. Zwei Tänzerinnen und ein Tänzer bevölkern diesen nächtlichen Garten. Sie leben in diesem fiktiven Refugium zusammen und das Publikum wird zum Zeugen einer polymorphen Reise der Körper und des Raums. Ihre grazilen und hüpfenden Bewegungen erinnern an Faune. Aber das Bild verwandelt sich, Farbpunkte beflecken die Körper und schminken die Gesichter, markieren sie mit einer rituellen Handschrift, während der Rhythmus und die Intensität des Tanzes eine vibrierende und malerische Atmosphäre erzwingen. Die Gesten werden nach und nach kommunikativ, die Körper sprechen, die Stimmen plustern sich auf und antworten einander – ein Leben in der Gruppe, Spiel, Schöpfung und Zerstörung. La Nuit, nos Autres beschwört die Kraft des kollektiven Körpers herauf, der sich in seiner Intimität feiert, sich verklärt, befreit und seine eigene Fiktion webt: ein "Wesen im Werden". Ein magnetischer und meditativer Mikrokosmos, der der Poesie des Lebens huldigt.

„Mit La Nuit, Nos Autres nähere ich mich der Frage der Selbstfeier durch ein neues Prisma: das eines intimen Rituals des Selbst zu sich selbst, einer Praxis der Selbstveränderung als organischer, sich bewegender und verändernder Ort.“ Aina Alegre

Aina Alegre, Tänzerin, Performerin und Choreografin, interessiert sich für die choreografische Kreation als ein Feld zur "Neuinterpretation" des Körpers. Sie erforscht verschiedene Kulturen und Körperpraktiken, die als soziale, historische und anthropologische Repräsentationen verstanden werden. Science-Fiction als Genre und kulturelle Praxis fließt ebenfalls in ihre Arbeit ein. Sie denkt über den Körper in fiktionalen Umgebungen nach und arbeitet mit Begriffen wie Hybridisierung, der Plastizität von Bewegung, dem Zustand der Präsenz und der Erfahrung von Zeit, um eine Sammlung von Bildern, Ideen und Konzepten zu erzeugen. Auf diese Weise entstehen choreografische Objekte, die sich aus verschiedenen Medien zusammensetzen: Stücke für die Bühne, Performances, Videos. Nach einer multidisziplinären Ausbildung in den Bereichen Tanz, Theater und Musik in Barcelona begann Aina Alegre 2007 im CNDC in Angers zu arbeiten. 2011 kreierte sie die Performance La Maja Desnuda Dice, die dann zur Kreation des Stücks No Se Trata De Un Desnudo Mitologico führte. Danach kreierte sie Délices, Le Jour De La Bête und La Nuit, Nos Autres. 2020 schuf sie das Stück Concrerto in Zusammenarbeit mit David Wampach und das Solo R-A-U-X-A. Parallel zu den Bühnenprojekten baut sie das Forschungs- und Performanceprojekt ETUDES auf, mit dem sie Menschen und Territorien rund um die Praktiken und Tänze im Zusammenhang mit dem Hämmern/Klopfen trifft. Ihre Arbeit wurde in verschiedenen Ländern wie Spanien, Frankreich, Belgien, der Schweiz, Peru und Rumänien gezeigt.

MISSING IN AACTION
Mia Habib (Oslo)

Fr 20. Mai 2022, 21h + Sa 21. Mai 2022, 19h30
T-Werk, Schiffbauergasse 4e, Potsdam

Dunkle Kleidung, weißer Raum – Mia Habib steht regungslos in einer Ecke. Plötzlich trifft sie die Bewegung wie ein Blitz, zwingt sie auf den Boden und verlässt sie wieder. Dieses fesselnde und zugleich obsessive Solo entwickelt sich im Rhythmus der inneren Reise und der Dämonen der Tänzerin. Die Geschichte dieses Stücks wurde zu einem entscheidenden Teil des Werks selbst. Es wurde in einer Kirche, in einem besetzten Haus, vor PKK-Kämpfern im Irak, in Israel, in der Türkei, in Madagaskar, in Madagaskar und auf verschiedenen Bühnen in den nordischen Ländern aufgeführt. Missing in Action stellt Bilder des Körpers als Terrorist, Fremder und Unterdrückter nebeneinander und präsentiert damit das menschliche Gesicht der Angst. Ergreifend zeigt Mia Habib auch die Pluralität des Körpers und der Identität, die weit mehr sind als die Summe der Ideen und Bilder, die sie darstellen sollen. 2005 uraufgeführt markierte das Solo den Beginn von Mia Habibs Karriere und war Thema mehrerer Vorträge und Veröffentlichungen. Dieses Solo wurde auch international zu einem Türöffner, da es viel Aufmerksamkeit auf sich zog, von den großen europäischen Tanzhäusern bis hin zu kleineren bahnbrechenden Festivals.

Die Geschichte des Stücks Missing in Action ist zu einem wichtigen Teil des Werks selbst geworden. Das Solo dient auch als wiederkehrendes Material in Mia Habibs Film The Movie Concert, der 2008 für die Eröffnung des Dansens Hus in Oslo in Auftrag gegeben wurde. Der Philosoph Boyan Manchev hat das Solo in seinen Vorlesungen in Sophia und an der Hochschule für Philosophie in Paris verwendet. Er hat auch ein bulgarisches Buch veröffentlicht, in dem er das Solo im Zusammenhang mit dem sich wandelnden Körper analysiert, zusammen mit Werken von Xavier Le Roy, Gisèle Vienne und Benoît Lachambre.

Mia Haugland Habib (1980, Houston) ist eine in Oslo lebende Tänzerin, Performerin und Choreografin, die an der Schnittstelle von Performance, Ausstellungen, Publikationen, Vorträgen, Unterricht, Mentoring und Kuratieren arbeitet. Habib hat einen Master-Abschluss in Konfliktlösung und Mediation von der Universität Tel Aviv und eine Choreografie-Ausbildung an der Oslo National Academy of the Arts absolviert. Mia Habib gründete Mia Habib Productions im Jahr 2004 und wird vom Norwegischen Kunstrat unterstützt.

Uraufführung

HAPPY SISYPHOS
Hermann Heisig (Berlin)

Sa. 21. Mai 2022, 16h
fabrik Studiohaus, Schiffbauergasse 4g, Potsdam

Inspiriert durch die Idee einer Sisyphos- Aufgabe als einer Tätigkeit, die ohne absehbares Ende immer wieder von vorn beginnt, macht happy sisyphos den antiken Mythos zum Ausgangspunkt eines absurden Kosmos. Drei Personen, eine Leiter, ein Ball und 13 Sitzkissen finden sich in Songs und rhythmischen Strukturen immer wieder neu zusammen. Ein kollektiver Körper entsteht, eine Maschinerie des Bauens, Erzählens, Singens… Tänze der Vergeblichkeit und der Wiederholung, die auch auf wundersame Weise Freude in sich bergen.

Hermann Heisig lebt und arbeitet als Choreograf, Tänzer und Performer in Berlin. Er wurde 1981 in Leipzig geboren, wo er sich Ende der 90er Jahre für zeitgenössischen Tanz zu interessieren begann und zahlreiche autodidaktisch entstandene Soloperformances in Galerien und Clubs aufführte. Nach seiner Ausbildung in Berlin und Montpellier arbeitete er u.a. als Tänzer und Performer für Martine Pisani, Meg Stuart/Damaged Goods, Pieter Ampe, Thomas Lehmen, Begüm Erciyas, Julian Weber und Corinna Harfouch. Hermanns eigene Arbeiten setzen sich mit Reibungseffekten auseinander, die Körper in sich, miteinander und mit ihrer Umwelt produzieren. Sie widersetzen sich Effizienz und zelebrieren eine Ästhetik des Do-it-yourself, Unfreiwilligkeit als Motor, das Monströse, das Lebendige, das Mechanische.

TICKETS: www.potsdamer-tanztage.de

Firmenkontakt und Herausgeber der Meldung:

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